Panik, Neuanfänge und Ziegen
Vanessa Vassar – 24. September 2019
Wenn ein Kind stirbt, haben Eltern viele Fragen. Die meisten drehen sich um das geliebte Kind selbst. Aber wenn ein trauerndes Elternteil endlich die Vorstellung akzeptiert weiterzuleben, höre ich am häufigsten: „Werde ich jemals wieder ich selbst sein?“ Oder: „Werde ich jemals wieder der- oder dieselbe sein?“
Das Kind, das aus einem hervorgegangen ist, kann sich wie eine Erweiterung des eigenen Körpers und der eigenen Seele anfühlen. Die meisten von uns wollen sich um ihre Kinder kümmern, sie beschützen und alles an sie weitergeben, was sie können. Der Tod eines jungen Menschen fühlt sich also nicht als Teil der natürlichen Ordnung an. Vielmehr fühlt er sich sehr, sehr falsch an.
Wenn es stimmt, dass die einzige Konstante im Leben Wandlung ist, dann glaube ich auch daran, dass ich an jedem Wandel wachse und dass sich alles stets verändert. Die beiden oben genannten Fragen habe ich oft von frischgebackenen Eltern oder sogar von jemandem gehört, der gerade eine schwierige Trennung durchmachte. „Werde ich jemals wieder ich selbst sein? Werde ich jemals wieder der- oder dieselbe sein?“ Während ich hier sitze und fast ein Jahrzehnt nach dem Tod meiner Tochter Sky diesen Blogeintrag schreibe, kann ich beide Fragen nur mit einem „Ja“ und einem „Nein“ beantworten.
Vor vielen Jahren habe ich in Berlin gelebt. Während dieser Zeit reiste ich, drehte Musikvideos, machte Aufnahmen mit meiner Band Phonoroid und bekam meine Tochter. Auf diesem Foto, das auf einer Tour von Phonoroid aufgenommen wurde, habe ich Sky im Alter von acht Monaten auf dem Arm.
Die Jahre in Berlin kommen mir vor wie ein anderes Leben, genau wie meine Zeit mit Sky in New Mexico und die Jahre seit ihrem Tod sich wie ein jeweils anderes Leben anfühlen. Vieles von dem, was mich vor meinem schmerzhaften Verlust ausmachte, habe ich in meiner allumfassenden Trauer vergessen. Aber jetzt, und vor allem durch die Arbeit an unserem Kinderbuch Evan and the Skygoats, finde ich zurück zu dieser kreativen Seite von mir. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich Erinnerungen und Neuanfänge entfalten.
Foto 3: Verschiedene Interpreten. Veröffentlicht am 12. Juli 2019.
Und noch ein Neuanfang …
Vor ein paar Wochen entdeckte ich, dass unser Phonoroid-Song „Panic“ auf einer Jazz-Compilation mit dem Titel „Blue Intuition“ wiederveröffentlicht worden war. Als ich das Album zum ersten Mal höre, frage ich mich, ob Hans Peter Salentins Trompetensolo in „Panic“ der Grund dafür ist, dass unser Song auf dieser Jazz-Compilation enthalten ist. Ich freue mich sehr, Teil dieses Projekts zu sein, zusammen mit anderen Musikern, u. a. Abdullah Ibrahim. Ich habe unter den Titeln sogar den Song „Bit o’ Water“ von einem meiner Lieblingsfilmsoundtracks gefunden.
Beim Anhören meines eigenen Liedtextes merke ich, dass mir die Worte heute mehr bedeuten als damals vor vielen Jahren, als ich ihn schrieb.
After every ending there comes a new beginning
(Nach jedem Ende kommt ein neuer Anfang)
And in between there are moments of panic
(Und dazwischen gibt es Momente der Panik)
Als Sky starb, konnte ich mir keine Neuanfänge mehr vorstellen. Es gab eine lange Liste von Dingen, die ich, wie ich dachte, nie wieder tun würde, zum Beispiel nie wieder ein Kleidungsstück zu kaufen, nie wieder eine Geschichte zu schreiben, nie mehr zu tanzen, zu singen, zu lachen und ganz sicher nie wieder ein Kind zu bekommen. In den ersten Tagen, nachdem ich Sky verlor, weinte ich einmal 18 Stunden lang ohne Pause. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wie es möglich war, dass ein Körper so viele Tränen produzieren, eine Seele so viel Schmerz ertragen konnte.
Ich kann mich erinnern, zwei Jahre später zum ersten Mal wieder gesungen zu haben. Mit Skys Onkel Peter im Auto fuhr ich von Santa Fe nach Hause. Aus der Musikanlage des Wagens schallte ein Marvin-Gaye-Song und plötzlich sangen wir beide mit. An dem Abend tanzte ich zu Hause sogar. Mein Herz öffnete sich wieder.
Ein paar Monate später erfuhr ich, dass ich mit meinem Sohn Evan schwanger war. Meine Schwester Velina ging mit mir Umstandskleidung für meinen wachsenden Bauch aussuchen. An dem Punkt hatte ich schon fast alles von meiner Liste von Dingen abgehakt, die ich nie wieder tun würde. Es hatte Neuanfänge gegeben, was mir in den ersten Tagen, Monaten, ja sogar Jahren meiner Trauer unmöglich erschienen war.
Ich war und bin immer noch ich selbst.
Nachdem ich mir auf der neuen Jazz-Compilation „Panic“ angehört habe, suche ich nach der Phonoroid-CD dazu. Ich finde ein Exemplar und stoße im Booklet auf vergessene Polaroids aus meiner Vergangenheit. Das erste Foto hatte ich vom Musiker und Phonoroid-Produzenten Axel Manrico Heilhecker gemacht, als mein Zug vom Bahnhof in der Nähe unseres Aufnahmestudios abfuhr. Das zweite zeigt mich während der Dreharbeiten zu einem Musikvideo an einem Berliner Kanal.
Eine Reihe von Begebenheiten – allen voran die, dass unser Verleger bei Leaf Storm Press mir die Website www.vanessavassar.com schenkte und Lou Design Studio meine Website erstellte –, hat dazu geführt, dass ich mit vielen Menschen aus meiner Vergangenheit wieder in Kontakt getreten bin, darunter auch Axel. Wir haben nun beschlossen, ein neues Phonoroid-Album mit Kindermusik mit dem Titel „Songs from the Sky“ aufzunehmen.
Ich bin immer noch ich selbst.
After every ending there comes a new beginning
And in between there are moments of panic
Shhhh… let’s climb up to the caves
(Schhhhhh … lass uns zu den Höhlen hochklettern)
Foto 6: Sky, 4 Jahre alt, kniet sich hin, um die Textur der Steine in einer Höhle zu befühlen.)
Meine Geschichte ist nur meine Geschichte. Ich bin mir wohl bewusst, dass sich das Leid nach einem solchen Verlust auf so viele verschiedene Arten ausdrücken kann, wie es Menschen auf diesem Planeten gibt. Mir ist auch bewusst, dass das Schreiben einer Kindergeschichte, die auf meinem persönlichen Verlust basiert, mich wieder für die Welt öffnet, aus der ich mich vor so vielen Jahren zurückgezogen hatte.
Als Sky 2010 starb, ließ ich all meine kreativen Bestrebungen fallen und arbeitete auf Bauernhöfen und Baustellen, ging auf meiner Suche nach Orten, an denen ich existieren konnte, auf Friedhöfe und in ein abgelegenes Kloster. Letztendlich fand ich den größten Trost beim Beobachten aller Arten von Lebewesen – von Ameisen über Fledermäuse bis hin zu Vögeln und Ziegen. Ich bin und bleibe für immer dankbar, dass es diese erstaunlichen Wesen gibt.
Skyküsse für immer
V.
PS: Evan fand vor ein paar Tagen diese Plüschziege in unserer Lieblingsbuchhandlung Bookworks in Albuquerque. Sie erinnerte uns an die Ziege Electra, also nahmen wir sie mit nach Hause. Die Illustratorin Ophelia Cornet und ich werden am Sonntag, den 20. Oktober um 13 Uhr zu unserer ersten Lesung und Signierstunde von Evan and the Skygoats bei Bookworks sein. Skys geliebte Musiklehrerin, die Konzertcellistin und Präsidentin der Sky Velvet Vassar Music Foundation, Lisa Donald, wird ab 12:30 Uhr für uns spielen. Ich hoffe, wir sehen uns dort.