Die Ziegen
Vanessa Vassar – 23. April 2019
Von der Möglichkeit, Ziegen auf einer Farm zu besuchen, hörte ich zum ersten Mal in unserem lokalen Radiosender. Nur wenige Wochen nach dem Tod meiner Tochter Sky Velvet saß ich allein in dem Haus, in das ich mit dem Mann eingezogen war, der später Evans Vater werden sollte. Er war mit seinen Töchtern Mamie und Samantha, beide jünger als Sky, auf ein Straßenfest in der Central Avenue in Albuquerque gefahren.
Ohne Sky fühlte sich alles falsch an.
Ich sehe mich immer noch am Küchentisch sitzen, das Radio einschalten und merken, dass ich eine Liveschaltung von ebendiesem Straßenfest höre. Das Radio war damals mein ständiger Begleiter – eine Quelle des Trostes und des Schmerzes zugleich. Es war meine Verbindung zur Außenwelt, an der ich zu der Zeit nur selten teilhaben wollte. Die Musik und das Kinderlachen hätten mich beinahe dazu veranlasst, den Sender zu wechseln, doch dann hielt mich der Klang einer freundlichen Stimme davon ab, die von neugeborenen Zicklein erzählte. Die Stimme gehörte zu Nancy Coonridge, die von ihrer abgelegenen Farm berichtete, wo sie mit fast hundert Ziegen und einigen Herdenschutzhunden, Schweinen und Hühnern lebte. Aus aller Welt kamen Menschen zu ihr, um auf der Coonridge Goat Farm zu leben, zu arbeiten und – wie ich später erfuhr – um dort innere Heilung zu finden.
Zum ersten Mal seit Skys Tod verspürte ich einen Funken von Motivation. Ich suchte die Farm im Internet, und in dem Moment wusste ich, dass ich dort hinfahren und bei diesen Ziegen sein wollte. Ich schrieb Nancy, und ein paar Wochen später fand ich mich inmitten unzähliger entzückender Ziegen wieder. Noch vor dem Frühstück zeigte uns ein junger Mann namens Alex Vincent, wie man die vielen neuen Mutterziegen melkte. Ich taufte ihn sofort „Goatboy“, und der Name ist ihm in unserer nun schon neun Jahre währenden Freundschaft geblieben.
An diesen ersten Tagen auf der Coonridge Goat Farm brachte Alex uns bei, wie wichtig es war, sich eine starke Tasse Kaffee aus Nancys Küche zu holen, wenn man früh morgens zu den Ziegen ging, da es erst Frühstück gab, wenn sämtliche Ziegen gemolken und losgelaufen waren, um mit den Hütehunden frei durch die hochgelegene Wüstengegend zu streifen. Alex demonstrierte uns auch, wie man die Mutterziegen mit kleinen Eimern voller Baumwollsamen zu ihren Melkständen lockte. Er zeigte uns sogar, wie man sich frische Ziegenmilch direkt aus den Zitzen in den Kaffee streichen konnte. Ich war überrascht, wie süß die Milch schmeckt, und lernte von Alex, dass Ziegenmilch erst nach einigen Tagen ihren strengen Geschmack entwickelt.
Bei diesem ersten Besuch auf der Coonridge Goat Farm war ich tieftraurig. Doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein, einer anderen Realität – einer Realität, in der ich mich nicht mehr ganz so isoliert in meinem Schmerz fühlte und in der meine Geschichte Teil der Geschichte aller war.
Als ich zum ersten Mal wieder einen kurzen Moment der Verbindung zur restlichen Welt spürte, saß ich gerade zusammengesunken auf einer Bank vor Nancys Küche. Die anderen aßen drinnen zu Mittag, und ich war nach draußen gegangen, um mit einer Woge unerträglicher Sehnsucht nach meiner Tochter fertigzuwerden. Als ich zum Hang schaute, mein Blick von den unaufhörlich fließenden Tränen verschwommen, bemerkte ich, wie ein kleines, zartes Wesen durch das felsige Gelände herunterkam.
Ich lief zu Nancy und sagte ihr, da sei ein kleines Rehkitz ganz nah beim Haus. Als sie es sah, lächelte sie und sagte, es müsse das Baby einer ihrer Ziegen sein, die ein paar Tage zuvor verschwunden war und die nun mit ihrem Jungen zur Farm zurückkehrte.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Sky hat dieses Universum erst vor wenigen Wochen verlassen und dieses neue Wesen – dieses erstaunliche Geschöpf – hat es gerade erst vor ein paar Tagen betreten. All das fühlte sich surreal an und bittersüß.
Diese Gefühle blieben, während wir die Zicklein mit Milch aus der Flasche fütterten, den Ziegenmist mit Schaufeln einsammelten, dabei manchmal sogar über die Albernheiten der Ziegen lachten, und als wir Alex’ 21. Geburtstag mit lieblichem Wein und Bauerntabak feierten, obwohl er immer noch um seinen Vater trauerte, der erst ein paar Monate zuvor gestorben war.
Als ich Nancy auf einer unserer Wanderungen fragte, was für Menschen zu ihr auf die Farm kämen, um mit den Ziegen zu arbeiten, antwortete sie schlicht: „Menschen wie du. Menschen, die innere Heilung suchen.“ Auf die Frage, weshalb sie uns, die wir mit solcher Trauer und solchem Verlust kämpften, so gut verstünde und sogar willkommen hieße, erzählte sie mir, sie habe mit fünf Jahren ihre Mutter verloren.
Der letzte Abschnitt dieser Geschichte meiner inneren Heilung durch die Ziegen hatte mit einer jungen Frau zu tun, die Alex im Studium kennengelernt hatte, und die uns ein paar Tage auf unserer kleinen Farm in der Nähe von Albuquerque besuchte, als ich mit Evan hochschwanger war. Alex war auch gerade bei uns, und danach wollten er und Jane zusammen zur Coonridge Goat Farm fahren, um dort zu arbeiten. Jane wurde dann später mein „Goatgirl“.
Wenn sie zwischendurch in Albuquerque waren, besuchten uns Jane und Alex häufig. Zu einer dieser Gelegenheiten brachten sie uns ein Geschenk von Nancy mit: drei kleine Zicklein. Zwei davon waren Schwestern, die wir Evening und Ebony nannten. Und das dritte Zicklein, das eine Zeichnung im Fell hatte, die an einen Blitz erinnerte, bekam von uns den Namen Electra.
Ein Jahr später, als Jane wieder einmal bei uns auf der Farm war, fand ich sie eines Morgens in unserer Küche beim Herumkritzeln vor, was sie großartig konnte. Ich meinte: „Du solltest ein Kinderbuch illustrieren.“ Darauf fragte sie, ob ich eins im Kopf hätte, und ich sagte ihr, das hätte ich, aber ich käme nie dazu, mich hinzusetzen und es aufzuschreiben. Sie bot an, mit Evan zu spielen, während ich genau das tat, und ein paar Stunden später hatte ich eine erste Version von Evan and the Skygoats in meinen Computer getippt.
Später zeigte ich Evan and the Skygoats meiner Freundin, der Künstlerin Ophelia Cornet. Ich erzählte ihr von den Bildern Marc Chagalls, in denen ich mich in den ersten Jahren nach dem Tod meiner Tochter am ehesten wiedergefunden hatte. Ich hatte oft das Gefühl gehabt, über mir selbst oder zumindest über dem Rest der Welt zu schweben. Oft war ich hin- und hergerissen gewesen zwischen dem Drang, mich Sky „im Himmel“ anzuschließen, und dem Bestreben, bei der übrigen Familie und den Freunden, die ich so sehr liebte, auf der Erde zu bleiben.
Chagalls Gemälde voller schwebender Figuren, die von erdgebundenen Kräften gehalten werden, dazwischen süße Ziegen und bunte Wesen, waren der Ausgangspunkt für Ophelias Illustrationen. Daraus entwickelte sie dann ihren einzigartigen Illustrationsstil und ließ Evan and the Skygoats über meine Worte hinaus lebendig werden. Man kann Ophelias Hommage an Chagall in der Illustration von Evans Mutter erkennen, die über der Farm schwebt, während Evans Vater sie mit der einen und Evan sie mit der anderen Hand festhält.
Meine Reise der inneren Heilung geht weiter, aber ich bin dankbar, dass ich auf dieser Welt geblieben bin, ein weiteres Kind bekommen habe und weiter meine Geschichten erzählen kann. Ich werde allen aufmerksamen Menschen und liebenswerten Geschöpfen auf ewig dankbar sein, die mir geholfen haben, uralte Worte wie diese anzunehmen und sogar zu begrüßen: „Die einzige Konstante auf der Welt ist Veränderung.“
Skyküsse für immer.
V.
Ins Deutsche übertragen von Friederike Fischer, Berlin – www.friederikefischer.eu
Anmerkung der Übersetzerin in Absprache mit Vanessa: Auch in Deutschland und im restlichen Europa gibt es Ziegenhöfe, die man besuchen kann. Es lohnt sich vielleicht, sich danach umzusehen.