Kraniche, Kaffee und Ziegen

Vanessa Vassar – 14. November 2019

Es ist ein warmer Herbstnachmittag in Albuquerque und ich liege vor unserem kleinen Adobe-Haus auf einer Bank unter dem blau-weißen Himmel. Ich warte auf Evan, den seine Großeltern nach Hause bringen werden. Für mein Gesicht habe ich auf der Bank eine kleine Stelle mit Schatten gefunden, während der Rest meines Körpers die Sonne absorbiert.

Nach einiger Zeit bemerke ich die Kraniche mit ihren charakteristischen Rufen hoch oben am Himmel in ihren verschiedenen Flugmustern. Sie fliegen in einer Kette und in V-Formation aus 7 oder 12 oder 22 Vögeln und schließen sich in Kreisen wirbelnd zusammen, bevor sie sich wieder in kürzere Ketten und kleinere V-Formationen auflösen.

Ich bin völlig fasziniert.

Zwischen den vier Bäumen und den paar Häusern ringsum tut sich ein großes Fenster vor mir auf, gerahmt von Blättern, Zweigen und Lehmwänden, durch das ich die Choreographie der Tiere beobachten kann. Viele Minuten vergehen, bis ich auch die kleineren Vögel in den Bäumen um mich herum bemerke. Sie zwitschern und singen, huschen zwischen den Zweigen herum und rascheln in den Blättern. Sie sind die Schauspieler und die Kraniche sind das Orchester in meinem Theater.

Und obwohl ich auch das Brummen von Autos mit den lauteren Akzenten von LKWs oder Motorrädern höre, beruhigen mich die Klänge der Natur. Ich höre sogar das ein oder andere trockene Blatt, durch eine zarte Brise gelöst, zu Boden fallen.

Jetzt, da ich hier liege, werde ich an die ersten Jahre nach Skys Tod erinnert. In der Zeit danach verbrachte ich so viele Stunden damit, in der Natur zu liegen, in ihr zu wandern, zu knien, zu fallen und mich schließlich auf sie zu stützen. Ich hoffte, dass die Natur einen Teil meiner Schmerzen aufnehmen würde. Oft tat sie das tatsächlich.

In unserem letzten Jahr hatten Sky und ich mehrere Gespräche über Religion, Spiritualität, den Sinn des Lebens und darüber, wohin wir nach dem Tod gehen. Sie wollte es mit meiner Hilfe verstehen, aber ich erklärte ihr, dass jeder die Antworten auf diese Fragen selbst für sich entdecken müsse. Ich bestärkte sie zudem darin, mit ihren Freunden Gottesdienste zu besuchen und alles zu lesen, was zu ihrer Seele sprach. An einem der letzten Sonntage mit ihr besuchten wir die Church of Beethoven, wo wir mit dampfenden Bechern Kaffee und heißer Schokolade Gedichte und Musik hörten.

Wenige Wochen später fand dort die Trauerfeier für Sky statt.

Während unseres letzten gemeinsamen Jahres fuhr ich mit Sky einmal auf dem Heimweg im Auto und sie fragte mich, was ich glaubte, wohin sie gehen würde, wenn sie eines Tages starb. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich, abgelenkt vom abendlichen Straßenverkehr. „Vielleicht wirst du dich in eine Blumenwiese verwandeln.“ Sky lächelte und schaute aus ihrem Fenster.

Das letzte Haus, in dem Sky und ich zusammen wohnten, befand sich am Fuße der Sandia Mountains. Ich bezeichnete unseren Blick auf den sich ständig verändernden Himmel oft als ein wunderschönes Schauspiel. Es gab einen stehenden Witz zwischen uns, bei dem ich sagte: „Sieh sich einer den schönen Himmel [Sky] an!“, und sie dann lachend „Danke!“ antwortete.

Auf diesem Bild von Sky „fliegt“ sie auf einem Feld mit den Gänsen. Dahinter liegen die Sandia Mountains. Dieses Foto nahm ihre liebe Freundin Sofia Resnik vor zehn Jahren für ein Projekt ihrer Schülerzeitung auf, nur wenige Monate bevor Sky starb.

Sofia ist inzwischen zu einer wunderbaren jungen Frau herangewachsen und Redakteurin des internationalen Modemagazins Zephyr geworden. Neben ihrer Mutter, Künstlerin und Illustratorin Ophelia Cornet, und mir brachte sie sich auch bei der illustratorischen und redaktionellen Gestaltung von Evan and the Skygoats ein.

Vor einigen Wochen hat Leaf Storm Press nun Evan and the Skygoats veröffentlicht und unsere erste Lesung fand in der Buchhandlung Bookworks in Albuquerque statt. Für diese Veranstaltung hatte Ophelia ein Kunstprojekt vorbereitet, bei dem jedes Kind das Cover von Evan and the Skygoats ausmalen konnte. So viele junge Menschen saßen auf dem Boden vor dem restlichen Publikum und hörten zu, sahen zu und malten, während ich las und Ophelia die Bilder aus unserem Buch zeigte. Die Kinder beteiligten sich auch während unserer anschließenden Diskussion mit so nachdenklichen Fragen und tiefgründigen Kommentaren, dass viele von uns Erwachsenen über alle Erwartungen hinaus beeindruckt waren. Mein Herz war voll.

Hier ist eine weitere Geschichte von vor ein paar Wochen …

Ich bin in einem meiner Lieblingscafés, Cutbow Coffee, in Albuquerque. So viel von der Arbeit an und um Evan and the Skygoats wurde hier erledigt, und ein paar der Mitarbeiter und Stammgäste sind mir mittlerweile lieb und vertraut geworden.

Es ist fast Mittag, der vormittägliche Andrang ist also vorbei, und Besitzer Paul und ich unterhalten uns kurz über Kaffee, bevor er nach unserem Buch fragt. Er hat gehört, dass es um Trauer geht, aber mehr weiß er nicht darüber. Als er mich bittet, ihm davon zu erzählen, stelle ich überrascht fest, wie natürlich sich unser Gespräch entwickelt. Uns beiden treten Tränen in die Augen, als ich ihm erkläre, dass die Geschichte auf dem Verlust meiner damals 13-jährigen Tochter basiert. Ein schmerzhafter Moment verbindet uns. Ich weiß, dass er auch Vater ist.

Dann erwähne ich das erweiterte Thema des Buches über den heilenden Umgang mit Ziegen, als die sympathische Barista Zoe hinter der Theke ruft: „Ziegen – ich liebe Ziegen!“ Wir tauschen uns lebhaft aus und sie erzählt mir, dass sie hofft, eines Tages auf einer Farm leben und Ziegen züchten zu können. Ich zeige ihr Fotos von Electra, Evening und Ebony – den echten Ziegen, die in meiner Geschichte zu den Himmelsziegen werden. Sie sagt, Anglo-Nubier-Ziegen möge sie am liebsten.

Es ist erstaunlich, wie oft mir diese Geschöpfe helfen, mich in meiner Welt zurechtzufinden, und sei es auch nur durch ihre Erwähnung in einem unerwarteten Gespräch. Erst dachte ich, dieses Thema folge mir eben überallhin, aber während ich dies hier schreibe, korrigiere ich mich und stelle fest, dass ich es immer und überall in mir trage – Ziegen als Schlüsselmotiv in meiner Geschichte, neben all den Lebewesen, die mit uns und um uns herum leben, und der gesamten Natur, die mir hilft zu heilen.

Wenn man mich fragt, für welches Alter Evan and the Skygoats gedacht ist, sage ich immer, für Kinder zwischen 3 und 103 Jahren. Denn in Schönheit zu leben und Hoffnung zu finden sind, selbst wenn man trauert, universelle Erfahrungen, die man sich nach jeder Art von Verlust wünschen kann. Und ein gedankenvolles Kinderbuch sollte zu uns allen sprechen – zu Kindern ebenso wie zu ihren Familien, Freunden und Lehrern, die es mit ihnen lesen oder es vorlesen.

Das wünsche ich mir jedenfalls für Evan and the Skygoats und daher habe ich eine Liste von Hinweisen für Menschen beigefügt, die trauern, und auch eine für diejenigen, die jemanden unterstützen wollen, der trauert. Einer dieser Hinweise lautet, sich die Zeit zu nehmen, andere Lebewesen auf unserem Planeten zu beobachten. Wir sind auf der Erde immer von dem Geschenk dieser Geschöpfe umgeben, auch an den unwahrscheinlichsten Orten.

Skyküsse für immer

V.

PS: Ein paar Wochen nach meinen Gesprächen bei Cutbow Coffee bot Paul uns an, im Café eine Lesung und Signierstunde von Evan and the Skygoats zu veranstalten. Dazu wird die Illustratorin Ophelia Cornet einige ihrer Illustrationen im Original zeigen. Ihre Kunstwerke werden ab der Buchlesung an diesem Sonntag, dem 17. November um 13.00 Uhr, für zwei Wochen bei Cutbow Coffee zu sehen sein.

PPS: Nach der Lesung wird Evans Schwester Samantha Daitz uns mit ihrer Stimme und einem Lied auf ihrer Gitarre erfreuen. Samantha ist seit ihrem achten Lebensjahr als Sprecherin der Sky Velvet Vassar Music Foundation aktiv.

Mehr über die Mission der Stiftung und ihre Veranstaltungen erfährst du hier.

PPPS: Skys frühere Cellolehrerin, die wunderbare Musikerin Lisa Donald, wird vor unserer Lesung bei Cutbow Coffee spielen. Evan hat letztes Jahr angefangen, bei Lisa Donald Cellounterricht zu nehmen. Dieses Foto von den beiden habe ich während seiner allerersten Stunde gemacht. Evan bekommt inzwischen an seiner Schule Cellounterricht und wird von dem Konzertcellisten und hervorragenden Lehrer Nick Upton unterrichtet. Evan wird uns beim Cutbow-Coffee-Event ein Stück vorspielen.